Ein Bericht von Sport aus Mainz von Bernd Eßling zum Bundesliga Heimkampf am 16.9.2017.
…Ein kollektiver Aufschrei aus den Kehlen der rund 300 Zuschauer ließ den Lärmpegel in der Nackenheimer Ringerhalle sekundenlang an die Schmerzgrenze schnellen. Fast die gesamte Besetzung der Betreuerbank der Alemannia stürmte auf die Matte. Arkadiusz Kulynycz wurde umringt, umarmt, geherzt. Der bemitleidenswerte Viktor Nemes, der noch geschlagen auf dem Boden kniete, wurde gleich mit überrannt.
Gerade hatte Kulynycz im Greco-Mittelgewicht den serbischen Weltmeister geschultert – die Vorentscheidung in der Bundesligabegegnung des SV Alemannia Nackenheim gegen den SV Triberg. Am Ende feierten die Nackenheimer Ringer mit einem 19:15 den dritten Saisonsieg im dritten Kampf und verteidigten ihre Tabellenführung.
„Wenn uns vor der Saison einer gesagt hätte, dass wir nach drei Runden 6:0 Punkte haben, hätte es keiner geglaubt“, sagte der strahlende Trainer Cengiz Cakici. „Für jeden Fan war das heute eine geile Begegnung – und das hätte ich auch für den Fall einer Niederlage gesagt.“
In der Tat war das Publikum, aufgeheizt von Hallensprecher Benno Krieger, von der ersten Minute an wie elektrisiert und sorgte mit Anfeuerungsrufen, Trommeln und Hupen für eine Gänsehautatmosphäre. Der Funke sprang auf die Athleten über, die durchweg an ihr Limit gingen und damit die Stimmung noch weiter in die Höhe trieben.
Tags zuvor Polnischer Meister geworden
Dem Duell im Mittelgewicht, dem ersten Kampf nach der Pause, kam richtungsweisende Bedeutung zu. Die Alemannen führten zwar 11:4, doch eine Entscheidung war noch lange nicht gefallen, denn nur einer ihrer Punktegaranten – Kubilay Cakici – wartete noch auf seinen Einsatz. Die Begegnung hätte noch ganz knapp werden und auch zugunsten der Gäste kippen können.
Viktor Nemes hatte sich bei den Tribergern in der Vorwoche mit einem technisch überlegenen Punktsieg über Ercihan Albayrak vom ASV Mainz 88 gut eingeführt. Der amtierende Weltmeister im Weltergewicht musste auch gegen Kulynycz als Favorit gelten. Für den Nackenheimer kam erschwerend hinzu, dass er tags zuvor schon bei den Polnischen Meisterschaften auf der Matte gestanden und den Titel – ebenfalls im Weltergewicht – geholt hatte.
Für seinen Auftritt im 75-Kilo-Limit hatte er ordentlich abkochen müssen. In Nackenheim brachte er zwar wieder 81,1 Kilo auf die Waage, doch so schnell steckt auch ein Topathlet eine solche Hungerkur nicht weg. Dazu kamen die Reisestrapazen. Hätte Kulynycz knapp verloren, hätte ihm auch keiner einen Vorwurf machen können.
Ein Salto als Zugabe
„Mein Plan war, in der ersten Runde keinen Punkt abzugeben“, sagte der Pole nach Ende der Begegnung. „In der zweiten wollte ich dann kommen.“ In den ersten drei Minuten fehlten denn auch die spektakulären Aktionen. Der Nackenheimer erhielt zwei Passivitätsvermahnungen, ließ auf dem Boden aber keine Wertung zu. Auch Nemes musste in die Bodenlage, ohne dass sich am 0:0 etwas geändert hätte.
Nach Wiederbeginn aber ging Kulynycz deutlich aggressiver zu Werke, vermochte sich zunächst jedoch keinen klaren Vorteil zu verschaffen. Bis er einen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit seines Kontrahenten nutzte, als Mattenleiter Daniel Keim die Athleten ermahnte, den Kopf nicht zu tief zu halten, und schmiss Nemes mit einem sauberen Kopf- Hüft-Zug auf die Matte.
Der Triberger geriet in die gefährliche Lage, stemmte sich noch rund 15 Sekunden gegen die Niederlage, dann klopfte Keim ab. Schultersieg. Der Aufschrei in der Ringerhalle schwoll zum Orkan an. Der Sieger feierte seinen Triumph, als er sich von den Gratulanten befreit hatte, mit einem beeindruckenden Salto. Wieder gelandet, sagte Kulynycz: „Das war in der Bundesliga bislang mein stärkster Kampf. Ich wusste, dass ich eine Chance haben würde, und die musste ich nutzen. Der Kopf-Hüft-Zug ist mein bester Angriff.“
Cengiz Cakici wollte nicht von einer Überraschung sprechen. „Nemes ist nicht der erste Weltmeister, der in der Bundesliga auf die Kiste fliegt“, sagte der Nackenheimer Trainer. „Für mich ist das auch weder Glück noch Zufall. Ich hatte allerdings einen engen Kampf erwartet.“
Auch Ferdinand mit Schultersieg
Vor der Pause war Robin Ferdinand ein ähnlicher Coup gelungen. Im Greco-Schwergewicht traf der Ex-Triberger auf den deutschen WM-Teilnehmer Oliver Hassler. Ferdinand verfügt zwar über einige Greco-Erfahrung, hat in der Jugend auch überwiegend in dieser Stilart gerungen, wurde dann aber zum Freistiler umgeschult – von Cengiz Cakici und dessen Bruder Ahmet.
Dennoch hätten die Vorteile eigentlich Hasslers Seite liegen sollen. Doch Ferdinand ging wie aufgezogen in das Duell, er attackierte von Beginn an und ging schon nach acht Sekunden mit einem Hüftangriff 4:0 in Führung. „Mit der ersten Vier habe ich Olli überrascht“, sagte Ferdinand. „Am Boden habe ich dann gleich den Armanschluss bekommen, sodass ich ihn drehen konnte. Das hat mir Auftrieb gegeben.“
Hassler verkürzte allerdings auf 2:4, da der Nackenheimer wegen eines Beineinsatzes verwarnt worden war. „Das passiert, wenn man so lang ist“, nahm Cakici das locker. Und nach dem zweiten Takedown schuf Ferdinand Fakten: Am Boden kippte und drehte er seinen Gegner, dessen einen Arm er am Körper festhielt, mit enormem Kraftaufwand bis zur 14:2- Führung. „Da wusste ich, dass Robin noch einen draufsetzt“, sagte Cakici, „es ist einfach geil, was der Typ macht. Robin ist ein Glücksgriff für uns.“
Als Hassler den Alemannen mit einem Griff von hinten um den Brustkorb auf die Matte drücken wollte, konterte Ferdinand, warf seinen Gegner über die Hüfte und fixierte ihn in der gefährlichen Lage. Beim Stand von 18:4 hatte er bereits technisch überlegen gewonnen, hob zum Zeichen des Siegs auch schon den Finger in Richtung seiner Ecke, presste Hassler aber noch auf die Schultern und sorgte für die erste Ekstasewelle in der Halle. „In dieser Situation war der Touche die Kür“, sagte Ferdinand.
Fallacara schlägt Scherer
Es war der zweite Schultersieg des 24-Jährigen in der noch jungen Saison. „Zu rechnen war damit auf keinen Fall“, sagte Ferdinand. „Ich habe mich die ganze Woche auf den Kampf gefreut und wollte unbedingt bei unserer ersten Heimbegegnung gewinnen.“
Der Erfolg hatte Signalwirkung, auch weil zuvor Khasan Khussein Badrudinov den erhofften technisch überlegenen Punktsieg im Freistil-Fliegengewicht eingefahren hatte. Die Alemannen führten 8:0. „Wir sind optimal in die Begegnung reingekommen“, sagte Ferdinand. „Wir hatten uns vorher gesagt, dass wir einen Kampf, in dem wir Außenseiter sind, drehen müssen. Dann würde es für die Mannschaft laufen.“
Den Schwung und die Euphorie nahmen Ibrahim Fallacara und Bayram Shaban mit; auch dank der Unterstützung der Fans sammelten sie weitere Punkte für die Gastgeber. Fallacara lieferte sich mit Marvin Scherer ein hochklassiges Mattengefecht im Greco-Federgewicht und realisierte den 2:0-Sieg, den sich der Trainer von ihm erhofft hatte. Im Freistil-Leichtgewicht hatte Shaban den Vorzug vor Koray Cakici erhalten, der gegen Vladislav Wagner keine Siegchance gehabt hätte.
Cakicis Rechnung geht auf
Für den Bulgaren musste allerdings Zoltan Levai weichen, um die Deutschquote zu erfüllen. Die Rechnung wäre nicht aufgegangen, hätte Shaban verloren, wonach es auch lange aussah. Den 0:2-Pausenrückstand hatte der Bulgare mit einem Schulterwurf zwar zum 4:2 gedreht, doch er wollte den Vorsprung nicht verwalten und startete weitere Angriffe, die der Triberger jeweils konterte und selbst wieder mit 10:4 in Führung ging. „Vladi hat einen tollen Kampf gemacht“, räumte auch Cengiz Cakici ein. „Körperlich ist er etwas kräftiger als Bayram. Das hat man in diesen Situationen gemerkt.“
Aber Shaban steckte nicht auf. In der letzten halben Minute kam er mit seinen Attacken doch noch durch und egalisierte Sekunden vor dem Gong zum 10:10. Dank der höchsten Wertung hatte er damit gewonnen. „Dass er den Rückstand noch ausgeglichen hat, zeigt Bayrams hohe Qualität“, lobte der Trainer.
Nach Kulynycz’ Husarenstreich standen die Zeichen endgültig auf Heimsieg. Und Kubilay Cakici machte im drittletzten Duell mit dem erwarteten technisch überlegenen Punktsieg den Deckel drauf. Die Nackenheimer begannen zu feiern. Die abschließenden Niederlagen von Danilo Bauer und Wladimir Berenhardt fielen nicht mehr ins Gewicht.